Ein
Instrument, vier Saiten, ein Bogen, fünf Finger. Das Klangspektrum der
Violine scheint begrenzt, und stellte gerade deshalb für viele
Komponisten eine Herausforderung dar. Dieser Herausforderung ist es zu
verdanken, dass die wunderschönsten, berührendsten und unglaublichsten
Stücke für Violine geschaffen wurden. Am
Mittwochabend trifft sich der harte Kern des Fesitvalpublikums in der
malerischen Loretokirche in Radstadt. Die Violin-Solistin Annelie Gahl gewährt
heute Einblicke in den schier unendlich großen Klangraum der Violine. Mit
kurzen Anekdoten und feinen Geschichten ruft sie schöne und spannende
Assoziationen hervor. Zu Giacinto Scelis‘ L’âme aillée erzählt sie,
dass der Komponist sich in einer Nervenklinik selbst therapierte, in dem
er am Klavier immer nur zwei Töne anschlug und anschließend dem
Ausklingen der Töne und deren Schallverbreitung lauschte. Das Stück
erinnert an so eine Situation. Beginnt man genauer hinzuhören, sich
hineinzuhören, erfährt man eine unglaubliche Vielfalt an Tönen. Die
Tonstärken liegen im weiten Spektrum von Pianissimo und Fortissimo, das
Spielen von mehreren Saiten gleichzeitig schafft eine Komplexität und
Mehrdimensionalität. Es entstehen Spannung und Anspannung, aber auch
Bilder im Kopf, Gefühle, man glaubt, die Verzweiflung Scelis‘ zu spüren
und sehnt sich nach einem Happy End. Die aufwühlenden Klänge beruhigen
sich, man selbst wird ebenso ruhiger und plötzlich ist es zu Ende – ob
es wirklich ein glückliches Ende war, bleibt offen.
Zu Bachs Ciaconna schreibt Brahms, dass
es: „ eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke“ sei.
Und wahrlich scheinen Gahls Finger und der Bogen förmlich durch die Luft
zu fliegen, als wäre der Heilige Geist persönlich von der Kuppel
herabgestiegen und hätte mitgeholfen. Schließt man die Augen, glaubt
man, es würden mehrere Bögen die vier Saiten der Violine spielen und
mehr als fünf Finger am Geigenhals auf- und abtanzen. Annelie Gahl
entlockt der Violine Klangkombinationen, welche man diesem kleinen
Instrument nicht zugetraut hätte. Sie schöpft das Spektrum der
Klangvielfalt aus, platziert jeden Ton präzise und exakt. Bei den
Pianissimi hat man das Gefühl, sie würde die Saiten vielmehr streicheln
als sie zu spielen. Die Akustik in der Loretokirche tut das ihre zu diesem
einmaligen Klangerlebnis. Einer der Festivalbesucher merkt an, eine Geige
noch nie so „gut“ wie hier gehört zu haben.
Ganz im Zeichen von Hören.im Moment
ist das Publikum ungemein offen, aufgeschlossen und neugierig auf dieses
neue Hörerlebnis. Es lässt sich ein auf Anderes und Ungewohntes und hört
sich hinein in die Musik und in den Moment.
Der Mittwochabend in der Loretokirche war zwar ein
ungewöhnlicher Abend mit ungewöhnlichen Klängen, aber auch ungewöhnlich
schön.
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