"Dem Himmel gegenüber"
Paul-Hofhaimer Tage, Radstadt, 11. Juni 2006
Vortrag Johannes Rauchenberger, Graz

Dem Himmel gegenüber
sehr geehrte Damen und Herren,
erzählt man sich Witze.

Ein solcher sehr bekannter ist aufgeschrieben bei Ludwig Thoma, dem Redakteur des „Simplicissimus“, geboren 1867 im schönen Bergdorf Oberammergau, das der schönen Bergstadt Radstadt in zwei Punkten gleicht, in der Schönheit ihrer Natur und, zweitens, in der hohen Emigrationsrate, wenn gerade nichts zu tun ist – wie etwa die Passion zu spielen oder die Paul-Hofhaimer Tage zu bestreiten inclusive Mozarts Requiem.

Die kurze Titelgeschichte der unter der Überschrift „Der Münchner im Himmel“ versammelten „Satiren und Humoresken“ erzählt von der Himmelfahrt des ,,Alois Hingerl, Nr. 172, Dienstmann in München“, der „vom Schlag gerührt zu Boden fiel und starb“.

Im Himmel wird er vom Hl. Petrus in Empfang genommen. „Der Apostel gab ihm eine Harfe und machte ihn mit der himmlischen Hausordnung bekannt. Von acht Uhr früh bis zwölf Uhr mittags ,frohlocken', und von zwölf Uhr mittags bis acht Uhr abends ,Hosianna singen' .“ Der Münchner Dienstmann fügt sich, wenn auch widerwillig, den neuen Existenzbedingungen, setzte sich, „wie es ihm befohlen war, auf eine Wolke und began n zu frohlocken: ,Ha-lä-lä-lä-lu-u-hu-hiah!' ...“  Da es aber über eine vage Manna-Verheißung hinaus bei all dem Frohlocken nichts zu trinken oder zu schnupfen („koan Schmaizla“) gibt, schiebt sich in das ätherische Alleluja ein handfestes Fluchen: „fing er wieder sehr zornig zu singen an: „,Ha-ha-lä-lä-lu-u-uh - - Himmi - Herrgott - Erdöpfi - Saggerament - lu - uuu – iah!' Er schrie so, daß der liebe Gott von seinem Mittagsschlafe erwachte und ganz erstaunt fragte: ,Was ist denn da für ein Lümmel heroben?'“ Gottvater wird wie ein gemächlicher bayrischer Dorfpfarrer unsanft aus dem mittäglichen Schlummer geweckt, und wie einem solchen Gegenüber spornt die Beschwerde über die himmlische Ruhestörung den Alois erst recht zum Schimpfen an: ,,,Ja, was glaab'n denn Sie?' sagte er. ,Weil Sie der liabe Good san, müaßt i singa, wia'r a Zeiserl, an ganz'n Tag, und z'trinka kriagat ma gar nix! A Manna, hat der g'sagt, kriag i! A Manna! Da balst ma net gehst mit dein Manna! Überhaupt sing i nimma!'“ Der „liebe Gott“ und sein Himmelspförtner erkennen auf Dienstuntauglichkeit für den himmlischen Chorgesang und setzen den Alois in eine andere „englische“ Funktion um, eine Art himmlischen Dienstmann, der „die göttlichen Ratschlüsse der bayrischen Regierung“ überbringen soll, welcher praktische Dienst ihn mehr freut als das Frohlocken zur Harfe. Sein erster Auftrag an den bayrischen Kultusminister führt freilich gleich zu einer höchst irdischen Reinkarnation: ,,Allein, nach seiner alten Gewohnheit ging er mit dem Brief zuerst ins Hofbräuhaus, wo er noch sitzt. Herr von Wehner wartet heute noch vergeblich auf die göttliche Eingebung.“

Unter dem Titel „Der Postsekretär im Himmel“ gibt es im gleichen Band eine zweite Geschichte, die, weil ganz ähnlich, hier im einzelnen nicht nachzuerzählen ist. Die Himmelsreise wird da „einem echt bayerischen Schlaganfall“ zugeschrieben, der sich am Ende aufklärt: „Da merkte er froh, dass er im Bräuhause eingeschlafen war und alles nur geträumt hatte.“ Von solcher Seinsart wird auch die Himmelfahrt des Alois Hingerl gewesen sein. Es sind Träume vom Himmel, aber eher Alpträume einer jenseitigen Existenz, in der wahr würde, was Theologen vom Schlage des Hl. Augustinus dem gemeinen Volk als Seligkeit vor Augen malen: „cibus noster alleluia, potus alleluia. Totum gaudium est alleluia“[1] (Unser Essen ist ein Halleluja, unser Trinken ist ein Halleluja. Unsere ganze Freude ist das Halleluja.)

also: sehr geehrte Damen und Herren,
dem Himmel gegenüber,

… ist sicher ein Gasthaus oder wenigstens eine Almhütte. Für alle, die warten bis sie hinüberkommen. Oder, die einen trinken gehen als Unterbrechung zum ewigen Hallelujasingen. Oder für die, die die zündenden Ideen des göttlichen Ratschlusses für eine Stadt überbringen, sie sehen also, wie politisch diese Paul-Hofhaimer Tage sind: „Um die Ecke, links, geradeaus, links“ – dem Himmel gegenüber, das ist eine Wegbeschreibung für einen besonderen Ort. Sind es die Wolken? Ist es die Landschaft, sind es die Berge? Die Wiese, das Grün, die Erde? Das Dickicht der Städte?

Imagine, there is no heaven above us, no hell below us, only sky. So sang John Lennon.

Einfach nur sky? Aus Mozarts Feder hingegen erklingt heute Abend als Höhepunkt dieser 20. Paul-Hofhaimer-Tage das Requiem mit seiner berühmten Sequenz des „dies irae dies illae“ am Abend. Also ist das Gegenüber des Himmels der Tag des Zorn an jenem Tag, wie wir schön übersetzen? Und nicht: Unser Trinken ist ein Halleluja, das Essen ist ein Halleluja, die ganze Hetz’ ist ein Halleluja. Alles ist möglich.

Was aber ist das dies irae, dies illae, fragen wir schnell nach, denn wir kennen es nicht mehr. Erlauben Sie eine kleine biografische Randnotiz: Als ich geboren wurde, hat es die Kirche aus der Begräbnisliturgie gestrichen. (Was natürlich nichts mit mir zu tun hat!)

Vielleicht haben wir es wenigstens vom Deutschunterricht noch in Erinnerung. In der berühmten Dom-Szene bei Goethes Faust, also in jener, der unmittelbar darauf die Walpurgisnacht folgt, macht der Böse Geist dem Gretchen furchtbar schlechtes Gewissen, so sehr, dass diese eh schon geängstigte Frau zur schieren Verzweiflung getrieben wird.

Der Böse Geist beginnt dem Gretchen einzuflößen:
  „Wie anders, Gretchen, war dir’s,
  Als du noch voll Unschuld
  Hier zum Altar tratst,
  Aus dem vergriffenen Büchelchen
  Gebete lalltest,
  Halb Kinderspiele,
  Halb Gott im Herzen!
  Gretchen!
  Wo steht dein Kopf?
  In deinem Herzen
  Welche Missetat?
  Betst du für deine Mutter Seele, die
  Durch dich zur langen, langen Pein hinüberschlief?
  Auf deiner Schwelle wessen Blut?
  - Und unter deinem Herzen
  Regt sich’s nicht quillend schon
  Und ängstet dich und sich
  Mit ahnungsvoller Gegenwart?

  Gretchen: „Weh! Weh!
  Wär ich der Gedanken los,
  Die mir herüber und hinüber gehen
  Wider mich!“

  Chor: Dies irae dies illa
  solvet saeclum in favilla
  Orgelton

Der Böse Geist nutzt diese Verse des dies irae dies illa zur puren Einschüchterung. Und so geht es weiter in dieser Szene bis sie kippt.

Der Chor fährt fort schließlich in den berühmten Versen:
 
Chor:
„Quid sum miser tunc dicturus“ 
 
Und Gretchen stammelt nur mehr:
  „Nachbarin! Euer Fläschchen! – „
  Sie fällt in Ohnmacht

Ja, das Fläschchen! In der Inszenierung, die Goethes Drama dem bildungsbürgerlichen Bewusstsein einprägte, färbte sich der kirchliche Gesang zum Medium teuflischer Beängstigung der Seele. Das maligne Spiel mit den liturgischen Zitaten, welches Gretchen die Seele zusammenschnürt, überträgt sich im Bildungsgang schließlich unter der Hand auf die Sequenz als solche und ganze. So empfunden, konnte sie kaum Bestand haben und musste irgendwann ins religionsgeschichtliche Depot, eingesperrt am besten, zugeschnürt, versiegelt. Aber heute, bei Ihnen in Radstadt, wird sie gesungen, die Sequenz.

Nehmen Sie also das Fläschchen mit, wenn sie schon nicht im Hofbräuhaus sitzen!

Mal langsam.

Das dies irae haben also die Liturgen der Kirche fast zeitgleich, als die Beatles die Götter unserer Eltern waren, aus der offiziellen Begräbnis-Liturgie entfernt – unzumutbar für heutige Ohren, wie man wahrscheinlich zu Recht argumentierte. (So ist es das Konzert, das noch darf, was man nicht mehr beten soll.) John Lennon hat nicht den heaven besungen, sondern den sky. Der ist zwar noch immer unendlich, wie uns die Kosmologen erzählen, aber zumindest in unserer Nähe ziemlich verpestet, durch die Treibgase, die die Erde erwärmen, das Gletscher schmelzen und die Meere ansteigen lassen und so Millionen von Lebewesen, darunter auch Menschen, unter sich begraben werden, durch die zahlreichen Luftstraßen, mit denen wir in metallenen Gefängnissen, ziemlich beengt und nebeneinander geschlichtet wie Sardinen, sodass wir nicht einmal ordentlich die Zeitung lesen können ohne die Sitznachbarin zu stören, einen einstigen Traum der Menschheit verwirklichen: sich zu erheben über die Wolken, etwas schneller von einem Ort zum anderen zu kommen, es gleichzutun den Vögeln.

Und wie wir da sitzen, im Flugzeug, und vielleicht das Glück haben, beim kleinen Guckloch nicht den öden Flügel zu sehen, sondern tatsächlich den Himmel, den nach oben nichts mehr begrenzt, der sich nur abgrenzt von seinem buchstäblichen Gegenüber, der flauschigen weißen Decke aus Wolken, sodass wir glauben möchten, hineinfallen zu wollen in diese weiße Watte, bekommen wir noch kurz einen Schauder, jenen Schauder, den wir beim ersten Mal hatten, als wir ein Flugzeug bevölkerten, dass das Hineinfallen in diese Watte, ja kein Fallen in einen weichen Flausch bedeutet, sondern nur ein Durchfallen durch diese Decke, die ja nur aus gesättigten Wassertropfen besteht, hinab, hinab, so, wie Hölderlin in Hyperions Schicksalslied dichtet „ins Ungewisse hinab.“

„Ihr wandelt droben im Licht / Auf weichen Boden, selige Genien! Glänzende Götterlüfte Rühren euch leicht, wie die Finger der Künstlerin heilige Saiten. Schicksallos, wie der schlafende / Säugling, atmen die Himmlischen / Keusch bewahrt / In bescheidener Knospe, / Blühet ewig / Ihnen der Geist / Und die seligen Augen / Blicken in stiller / Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben auf keiner Stätte zu ruhn, / Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur anderen, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab.“


So hat Friedrich Hölderlin das Gegenüber des Himmels ausgemessen, weich und schwebend das Eine, hart und zerhackt das andere. Und das andere, das ist eben das Gegenüber zum keuschen Schnitt der seligen Augen, die in stiller, ewiger Klarheit blicken, und das sind: wir. Wir, die Menschen, das Gegenüber der Unsterblichen, die also schwinden, fallen, hinab, hinab ins Ungewisse.

Lichtjahre unterhalb jenes Niveaus, das der bekannte Dichter aus der Zeit des Deutschen Idealismus vorgegeben hat, hat man in der religiösen Gebrauchsmusik meiner Generation einmal das Lied gedichtet:


„Leben, Leben wird es geben, Leben, Leben vor dem Tod.“

Immerhin, denken wir, immerhin.
Für viele, und es sind mehr als wir es sind, gilt ja auch dies nicht.

Aber es war damals auch formuliert gegen eine Haltung, dass das Leben erst einmal kommen wird, dass es aufzusparen sei für nachher, dann, wo alles vorbei ist. Jetzt aber, vor dem Tod haben wir das Leben im Griff, vogliamo tutto e subito, wie man vor 40 Jahren schrie – noch einmal rufe ich die Generation meiner Eltern um 1968 auf: tutto e subito, alles und sofort.

Gemessen daran, gemessen an das, was jene einst schrieen und forderten, haben sie viel erreicht. Und heute ist es so weit. Tutto e subito. Wir haben nicht nur die Macht, jetzt oder wenigstens morgen mit dem Flugzeug beinahe jedes Ziel dieser Erde anzusteuern, wir haben auch die Macht, jetzt und sofort uns im digitalen Datenhighway einzuloggen und diesen Globus binnen weniger Sekunden zu einem kleinen Spielball werden zu lassen, den wir mal hier, mal dort betippsen. Wir haben der Zeit ein Schnippchen geschlagen und wir haben den Raum bezwungen. Wir sind mit unseren Handys immer erreichbar,  jetzt und sofort, wir sagen, dass wir in fünf Minuten zu Hause sind, wir rufen vor der Fleischabteilung an, welches Schnitzel wir kaufen sollen, wir sagen, dass wir gerne den Rasen gemäht hätten, wenn: „Regnet es schon zu Hause?“

Wir bekennen mit Stolz, dass wir viel vom einstigen Gegenüber des Himmels verloren haben. Wir meinten natürlich „gewinnen“, ausgesetzt einem permanenten Wachstumsprozess, jenem drängenden Drang, die die Götter unserer Gesellschaft vorgeben, und denen kein Politiker mehr zu widersprechen wagt.

Das Gegenüber des Himmels wird so potent wie nie zuvor und verglüht zugleich im Projektionswahn unserer Endlichkeitsvorstellungen.

Wer gab uns die Macht, die Erde von der Sonne loszuketten? Wer gab uns den Schwamm, den Horizont wegzuwischen? Und stürzen wir nicht fortan? Rücklings, seitwärts, fort von allen Sonnen? Blickt uns nicht der leere Raum an?“

Der geistige Ahnherr der Moderne, Friedrich Nietzsche, hat in seiner bekannten Parabel „Vom tollen Menschen“ noch diese Frage gestellt, er aber wusste noch die Höhe des Falls zu erahnen, er wusste noch zu benennen, was wir nicht mehr können oder auch nicht mehr wollen. Wohin also stürzen wir? Bleiben wir bei unserem Gedanken aus dem Guckloch des stählernen Gefängnisses in der Luft: in die Watte, den Flausch, den Schnee.

In Radstadt, das mit seinem Festival der Paul-Hofhaimer-Tage im Bundesland Salzburg zwar nicht mit den bekannten Reizen der Mozartstadt lockt, sondern mit den Schönheiten seiner Natur, ist es ein leichtes sich vorzustellen, wohin man fällt, wenn man fällt: in die samtene Decke des Schnees. Nicht nur die Pisten, nicht nur die Dächer, nicht nur die Straßen tragen die anfänglich leichte und dann die schwere weiße Last, auch die Gräber, die anfangs noch Hügel markieren und nach und nach unter einer dicken weißen Schicht gleichgemacht werden. Unter einem solchen Hügel liegt auch meine Schwiegermutter.



Madeleine Dietz, Wo du auch bist, dort will ich sein, Stahlplatten, 2000/2006, Installation im Hof des Minoritenklosters, Ausstellung in den Minoriten-Galerien Graz, 1.3.-12.4.2006, Foto: J. Rauchenberger


Wenn Sie Kinder haben, kommen diese höchstens mit der Vorstellung zurecht, dass sie, die Oma, im Himmel ist, wenn sie plötzlich nicht mehr zu Besuch kommt, keine Geschichten mehr erzählt. „Die Oma soll in die Küche gehen und kochen“, sagte mein Sohn David, als er neben ihrem Sarg im Wohnzimmer lag. Er hat geklopft. Damals war er vier. Die Oma ist im Himmel, was wollen Sie ihnen, Ihren kleinen Kindern, sonst weis machen? Dass sie nun ein elektrisches Energiefeld ist, das uns im Zimmer umschwebt? Schließlich ist ja drei Tage nach unserem Tod unser Energiefeld noch messbar.


Immerhin
- denken wir. (Nur mehr vielleicht.)
Der Mensch ist weg wie nix.

Sagte Heimito von Doderer. Das ist also noch weniger als Hölderlins Stürzen. „Weg wie nix.“


Imagine, there is no heaven above us, no hell below us, only sky.

Wir fliegen und fliegen, wir sehen den Schnee unter uns. Oder sind es die Wolken? Ist es die Watte? Draußen, sagt der Kapitän durch die Lautsprecher im Flugzeug, hat es minus 48 Grad Celsius. Warum die Sonne hier nicht mehr warm ist? So mitten im sky?

Irgendwann gelangen die Strahlen durch die Decke, irgendetwas muss sie schließlich warm machen können, dass sie den Schnee schmelzen lassen. Auch in Radstadt. (Heuer kommt der Sommer nicht.)



Madeleine Dietz, Wo du auch bist, dort will ich sein, Stahlplatten, 2000/2006, Installation im Hof des Minoritenklosters, Ausstellung in den Minoriten-Galerien Graz, 1.3.-12.4.2006, Foto: J. Rauchenberger


Der Schnee schmilzt die Gräber. Die Sonne den Schnee.

Deine Augen – Dein Mund – Deine Haare – Dein Lachen



Deine Augen / Dein Blicken / Deine Klarheit



Deine seligen Augen / Blicken in stiller / Ewiger Klarheit
„Wo Du auch bist, dort will ich sein“ (Madeleine Dietz).


Die Sonne schmilzt den Schnee von den Gräbern. Wir erwarten in diesem Jahr so sehnsüchtig Wärme. Wir erwarten die Hitze. In Mozarts Requiem, in seinem dies irae, dies illae ist es heiß. Die favilla glüht noch von der Hitze. Es ist eine heiße Asche danach.

Vor zwei Jahren habe ich hier Erde in das Grabesloch geworden. Es war kalt, die Erde gefroren. Die Bestattung hier hatte nur wenig ungefrorene Erde, eine solche Erde war rar. Und so haben wir einen Topf mit ungefrorener Erde geraubt, um es ins Loch zu werfen. Der Priester sagte sein „Von der Erde bist du genommen, dorthin kehrst du zurück“ dabei.

Genau ein Jahr später, fast auf den Tag genau, haben wir in Graz mit Künstlern die Feuerhalle besucht und uns mit der ganzen Prozedur der letzten Entsorgung vertraut gemacht. Der Dichter, Arnold Stadler, den wir eingeladen hatten, erzählte auch vom Erdewerfen nach einer Beerdigung am Heiligen Abend. Seine Erde war gefroren; so war es wie ein Schuss, der auf den Sargdeckel knallte, ein Projektil, das das Holz womöglich durchdringen könnte. (Aber es ist zum Glück nicht geschehen.)


Der Mensch ist weg wie nix.


Um zu verbrennen, braucht der Mensch zwei Stunden. Das ist eine verdammt lange Zeit. In Graz gibt es zwei solcher Öfen. Wir waren nicht nur im Kühlhaus, wo die Toten noch warten, wir haben auch durch das Guckloch in das Feuer geblickt. Da lagen sie beieinander, friedlich, sie waren schon fast fertig. Aber sie hatten, so fühlten wir, Zeit. Zeit zu verbrennen. Die nächsten Schritte waren nur mehr das Auskühlen, die Knochenmühle, das Abfüllen, die richtige Nummer, zumachen, versiegeln. Das bleibt vom Menschen. Der Rest ist in den Himmel durch den Schornstein entschwunden. In den sky natürlich.


Imagine, there is no heaven above us, no hell below us, only sky.


Ja, das Guckloch. Was wir sahen war – dieses Wort fiel – schön.
Und doch: Soviel wir auch sahen, wir kommen über das Sehen dem Geheimnis nicht näher.

Aber es war etwas vom dies irae, dies illae dabei, das Sie heute Abend hören werden.

Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla:
Teste David cum Sibylla

Quantus tremor est futurus,
Quando iudex est venturus,
Cuncta stricte discussurus!


Und Goethe übersetzt den Tag des Zorns, den jüngsten Tag, wo die Welt in Feuer aufgeht.

Grimm fasst dich!
Die Posaune tönt!
Die Gräber beben!
Und dein Herz,
Aus Aschenruh
Zu Flammenqualen
Wieder aufgeschaffen,
Bebt auf.


Der Mensch kann brennen. Da hat er Zeit. Hier aber brennt nicht das Herz, es brennt die Welt. Das Ende der Zeit wird antizipiert, der Weltzeit überhaupt. Die Welt, sie brennt: „Solvet saeclum in favilla“. „Favilla“ ist die glühende Asche. Der Kosmos verglüht. Anders als in den Tagen des Noe oder des Tsunami ist es keine Überschwemmung, die die Welt zugrunde richtet (wie wohl die Gletscher schmelzen), sondern eine Feuersbrunst.

Das haben wir alles schon gesehen, denken wir längst, das haben wir alles schon gesehen.

Schließlich haben wir nicht nur den Himmel säkularisiert, sondern auch das Gericht. „Es kommt, es kommt, das jüngste Gericht“, darauf hat ein anderer Dichter, Max Frisch, in „Andorra“ vor 50 Jahren störrisch beharrt, als er gesehen hat, dass seine Generation weiter gelogen hat, dass sie weitergelebt haben, Täter neben Opfer, als wäre nichts gewesen.

Heute kommt das Gericht leichtpfotig daher. Mit smartem Anzug und schickem Kleid. In der Gestalt der Berater, keinen Beruf – höchstens den Stand der Ärzte – haben wir so hochbeamen lassen in den letzten Jahren wie den des Beraters, den Unternehmensberater, die Personalentwicklung, den Lebensberater… Wenn die Firma, in der wir arbeiten, in einer Krise ist, kommen sie, wenn unsere Beziehung in einer Krise ist, suchen wir sie auf. Schon wir zahlen viel, die Firmen geben Unsummen für sie aus, nur mit der Hoffnung, im erwarteten Endgericht einer alles gleich machenden Globalisierung noch bestehen zu können. Ihre Tätigkeit lautet „sanieren“. Doch tun sie es nicht im Sanatorium, sondern kommen vor Ort.

(Früher füllte die Wurzel „sanus“ das „Heilen“ aus.)

„Nachbarin! Euer Fläschchen!“ rief Gretchen. Und fiel in Ohnmacht.



Luis Sammer, "Fürchtet euch oder fürchtet euch ni
cht", (Großer Bär von Ingeborg Bachmann), Materialobjekt, 20x100x70 cm, 2006

Doch das Fläschchen ist leer. Wir wechseln erneut unsere Position und kehren nicht in das Flugzeug zurück, sondern nähern uns der Sonne, die wir mit diesem jüngsten Kunstwerk von Luis Sammer (2006) vom Firmament nehmen und auf die vom Eis gekühlten Platten legen und garnieren. Um sie herum die Fläschchen –  sie sind leer, ausgefahren wie Flaschenbomben. Und die orange Halbkugel im Zentrum glänzt noch ein bisschen nach, ehe ihr Licht bald erlöschen wird. Wir geben die Sonne als Halbkugel auf vier Blechformen, die Kopf, Tatzen und Füße eines Bären bilden, unförmig, wie von einer Bombe zerfetzt. Doch die orange Halbkugel ist das Herz für die Silhouette des losgerissenen Bären, den Ingeborg Bachmann, die am 25. Juni 80 Jahre alt geworden wäre, vor genau 50 Jahren noch zügeln wollte.

Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht!
Zahlt in den Klingelbeutel und gebt
dem blinden Mann ein gutes Wort,
daß er den Bären an der Leine hält.
Und würzt die Lämmer gut.
s' könnt sein, daß dieser Bär
sich losreißt nicht mehr droht
und alle Zapfen jagt, die von den Tannen
gefallen sind, den großen, geflügelten,
die aus dem Paradiese stürzten.


Dem Himmel gegenüber,
sehr geehrte Damen und Herren, sitzen wir und essen Eis.

Der „blinde Mann“, so glaubte die damals 30-Jährige, könnte den „Bären an der Leine halten“. Der dichterische Ratschlag: Die Lämmer sollten wir gut würzen. In den Klingelbeutel zahlen. Dem blinden Mann ein gutes Wort noch geben.

(Ich weiß nicht, ob es in Radstadt noch einen Klingelbeutel gibt.)

Wenn es noch Feuer gibt, grillen wir die Lämmer. Wenn die Sonne erlischt, essen wir Eis wie damals, als wir Kinder waren und unsere Eltern uns Pfirsich-Melba als Nachspeise servierten.

Wir kehren zurück in unserer Kapsel. Wir wechseln das Guckloch. Wir fliegen und fliegen. Unter uns sind wieder Wolken. Oder ist es die Watte? Draußen, sagt der Kapitän durch die knacksenden Lautsprecher, hat es minus 48 Grad Celsius. Warum die Sonne hier nicht mehr warm ist?

Es ist Zeit zu landen. Es ist Zeit, den sky zu verlassen – und in den Himmel zu kommen.

Wir stürzen
nicht mehr, wie Hölderlin sagte, nein, wir landen sanft mit unserem tonnenschweren Käfig.

Wir landen im Königreich. Wir erwarten den heaven.

Wir steigen aus, geordnet wie es die Stewardess wünscht. Wir passieren die Gepäcksschleife und warten auf unsere Habseligkeiten, wir sind bald hinter dem Zoll, bald in der Ankunftshalle eines Flughafens. Wir stehen vor der Schwelle zum Königreich, der „Threshold to The Kingdom“ (Mark Wallinger). Noch trennt uns die Zolltür. Sie öffnet sich automatisch, wenn wir durch sie durchtreten wollen. Wir gehen hinaus – oder wir gehen hinein, das ist eine Frage der Sichtweise. Wir gehen allein, als Geschäftsreisende, privat; in Gruppen, als Paare, Familien, Flugpersonal... Manche gehen zielsicher ihren Weg. Manche von uns werden erwartet, manche begrüßt, manche umarmt, manche gehen allein. Wir gehen in extremer Zeitlupe, wir wissen, dass hier eine andere Zeit herrscht. Eine andere Zeit als wir es bisher gewohnt waren, Zeit zu erfahren. Wir erinnern uns sogar, dass unser Hinaustreten wie eine Choreografie wirkt. Vielleicht hat man mit uns auch geübt.

Wir wechseln die Dimension.

An der Zolltür sitzt Petrus. Und wir singen nicht, wie Alois Hingerl, Halleluja, sondern:


„Miserere Mei, Deus: secundum magnam misericordiam tuam. …“ - „Herr, sei mir Sünder gnädig, gemäß deiner großen Barmherzigkeit (Psalm 51)“



Mark Wallinger, Threshold To The Kingdom, Video, 2002. Courtesy The Artist und Anthony Reynolds Gallery London


… Et secundum multitudinem miserationum tuarum: dele iniquitatem meam.
Amplius lava me ab iniquitate mea: et a peccato meo munda me.
Quoniam iniquitatem meam ego cognosco: et peccatum meum contra me est semper.
Tibi soli peccavi, et malum coram te feci: ut justificeris in sermonibus tuis, et vincas cum judicaris.
Ecce enim in iniquitatibus conceptus sum: et in peccatis concepit me mater mea.
Ecce enim veritatem dilexisti: incerta et occulta sapientiæ tuæ manifestasti mihi.
Asperges me hyssopo, et mundabor: lavabis me, et super nivem dealbabor.
Auditui meo dabis gaudium et lætitiam: et exultabunt ossa humiliata.
Averte faciem tuam a peccatis meis: et omnes iniquitates meas dele.
Cor mundum crea in me, Deus: et spiritum rectum innova in visceribus meis.
Ne projicias me a facie tua: et spiritum sanctum tuum ne auferas a me.
Redde mihi lætitiam salutaris tui: et spiritu principali confirma me.
Docebo iniquos vias tuas: et impii ad te convertentur.
Libera me de sanguinibus, Deus, Deus salutis meæ: et exsultabit lingua mea justitiam tuam.
Domine, labia mea aperies: et os meum annuntiabit laudem tuam.
Quoniam si voluisses sacrificium, dedissem utique: holocaustis non delectaberis.
Sacrificium Deo spiritus contribulatus: cor contritum et humiliatum, Deus, non despicies.
Benigne fac, Domine, in bona voluntate tua Sion: ut ædificentur muri Jerusalem.
Tunc acceptabis sacrificium justitiæ, oblationes et holocausta: tunc imponent super altare tuum vitulos.


(Dem Himmel gegenüber, meine Damen und Herren, ist eine Tür für die Schwelle ins Reich, der Threshold To the Kingdom – diese Vision verdanken wir dem britischen Kunststar Mark Wallinger, dessen Galerie in London mir dieses Kunstwerk, das erstmals auf der Biennale in Venedig 2001 zu sehen war,  für diesen Vortrag der Paul-Hofhaimer-Tage zur Verfügung gestellt hat und das heute in der betörenden Untermalung von Allegris Miseree erstmals live aufgeführt wurde, vom Schwantaler Vokalensemble unter der Leitung von Bernhard Schneider. Allegri hat diesen Psalm 51, den bekannten Bußpsalm für die Liturgie der Karwoche komponiert.)

Johannes Rauchenberger, Kunsthistoriker und Theologe (MMag. Dr.), Kurator internationaler Ausstellungen zeitgenössischer Kunst (wie etwa „Himmelschwer. Transformationen der Schwerkraft“), ist Leiter des Kulturzentrums bei den Minoriten in Graz und Lektor für Religion in der Kunst der Gegenwart an der Universität Wien.
www.minoritenkulturgraz.at

[1] Augustinus, SERMO 252, IN DIEBUS PASCHALIBUS